Verkehrsrecht Saarland: Ein Nachweis der bestrittenen Unfallverursachung kann in seltenen Fällen auch ohne Zeugen und ohne eindeutiges Gutachtenergebnis gelingen (Urteil des OLG Saarbrücken vom 14.03.2025 – AZ:4 O 77/19)

Ein jahrelanges Verfahren – mit zwei erstinstanzlichen und zwei Berufungsverfahren – fand 2025 endlich sein erfreuliches Ende.

Der Fall:
Auf der A620 kam es 2019 aufgrund eines Spurwechsels zu einer Kollision mit dem PKW unseres Mandanten.

Das Problem:
Unser Mandant verabsäumte es, die Polizei einzuschalten und der Unfallgegner behauptete im Nachhinein , nicht er, sondern unser Mandant hätte die Fahrspur gewechselt.

Der Prozess:
Das eingeholte Sachverständigengutachten lieferte – jedenfalls isoliert- kein eindeutiges Ergebnis.
Auch Zeugen standen nicht zur Verfügung.

Aus diesem Grund wurde die Klage von der Erstinstanz, dem LG Saarbrücken, zwei mal abgewiesen – schon die erste von uns eingelegte Berufung war insoweit erfolgreich, als das Urteil aufgehoben und die Sache zum LG zurückverwiesen worden war – und erst die zweite OLG- Entscheidung gab der Klage schließlich vollumfänglich statt.

Aus den Gründen:

Auf der Grundlage der informatorischen Anhörung des Klägers (zur entsprechenden Überzeugungsbildung vgl. nur BGH, Beschluss vom 27.
September 2017 – XII ZR 48/17, Rn. 12, juris, m.w.N.) und der unangegriffenen Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen ist der Senat davon
überzeugt, dass der Fahrer des Reisebusses den Unfall dadurch verschuldet hat, dass er beim Wechsel seiner Fahrspur mit dem klägerischen Fahrzeug kollidiert ist.
a) Nach der Darstellung des Klägers, der den Unfallhergang mit entsprechender Detailtreue, für den Senat anschaulich, ohne innere Widersprüche und in einem in jeder Hinsicht nachvollziehbaren Zusammenhang geschildert hat, befuhr der Kläger den rechten Fahrstreifen der zweispurigen Autobahn, als der von hinten mit höherer Geschwindigkeit ankommende Reisebus zunächst auf die linke Spur wechselte, obwohl in direkter Nähe bereits die
Fahrbahn nach rechts verengt wurde, und dann im weiteren Verlauf an das klägerische Fahrzeug anstieß.
Diese Darstellung ist mit den unangegriffenen Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen problemlos in Einklang zu bringen. Denn der
gerichtliche Sachverständige konnte auf der Grundlage dieser Angaben, wie sie der Kläger im Übrigen bereits vor dem 4. Zivilsenat gemacht hatte (vgl. Protokoll vom 25.02.2021, S. 3 ff., Bl. 285 ff. GA), den Unfallhergang so nachvollziehen, dass der Reisebus im weiteren Verlauf beim Wechsel von der linken auf die rechte Fahrspur das klägerische Fahrzeug im hinteren linken Seitenbereich getroffen hat (vgl. Gutachten vom 24.01.2020, S. 18, Bl. 148 GA; Ergänzungsgutachten vom 07.03.2024, S. 5/6, Bl. 482 f. GA).
Der Senat legt diese Sachverhaltsdarstellung seiner Beurteilung des Unfallgeschehens zugrunde. Denn der Kläger war auch im persönlichen Eindruck
vor dem Senat glaubwürdig. Er hat insbesondere mit großer Ruhe, Sachlichkeit und in erkennbarem Bestreben, an einer objektiven Aufklärung des
Unfallgeschehens mitzuwirken, seine Ausführungen gemacht und die an ihn gestellten Fragen des Senats sicher, direkt und ohne jede Übertreibung
beantwortet.
b) Richtig ist zwar, dass der Zeuge XXXX, dessen schriftliche Aussage (Bl. 70/71 GA, Bl. 169 GA) mangels Erreichbarkeit des Zeugen und im Einverständnis mit den Parteien urkundlich verwertet werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 13. Februar 2007 – VI ZR 58/06, Rn. 15 ff., juris), bekundet hat, der klägerische Pkw habe einen Fahrspurwechsel von rechts nach links vollzogen und sei dabei gegen den Reisebus gefahren. Richtig ist auch, dass der gerichtliche Sachverständige einen solchen Unfallhergang für technisch möglich gehalten hat (vgl. zuletzt Ergänzungsgutachten vom 07.03.2024, S. 5, Bl. 482 GA). Der Senat folgt dieser Darstellung des Zeugen allerdings nicht.
Zum einen ist zu bedenken, dass der Beweiswert dieser Urkunde gering ist, da sie die nicht in einem formellen Verfahren (ggfl. nach entsprechender
Belehrung) gewonnene, sondern lediglich gegenüber dem gegnerischen Haftpflichtversicherer gemachte Äußerung des Zeugen wiedergibt (vgl. BGH aaO Rn. 17), von dem nicht einmal sicher feststeht, ob es sich überhaupt um den Fahrer des Reisebusses handelt. Zum anderen erheben sich für den Senat durchgreifende Zweifel an der Richtigkeit dieser Unfalldarstellung, da es lebensfremd erscheint, dass der Kläger, obwohl die Fahrbahn in unmittelbarer Nähe nach rechts verengt wurde, den Reisebus rechts überholt haben soll, um dann wieder auf die linke Spur wiedereinzuscheren und dort weiterzufahren, wie es der Zeuge XXXXX dargestellt hat. Erheblich lebensnäher erscheint die Möglichkeit, dass der Fahrer des Reisebusses – wie der Kläger dargestellt hat – zunächst auf die linke Fahrspur gewechselt ist, um sodann (wegen der unmittelbar bevorstehenden Fahrbahnverengung) wieder auf die rechte Fahrspur zu wechseln.
4. Den Fahrer des Reisebusses trifft auf dieser Tatsachengrundlage ein unfallursächlicher Verstoß gegen die Pflichten beim Fahrspurwechsel (§ 7 Abs. 5
StVO). Denn er hätte die Fahrspur von links nach rechts erst wechseln dürfen, wenn er jegliche Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer, mithin auch des Klägers, hätte ausschließen können. Dies hat er insbesondere im Hinblick auf die für ihn nach den Feststellungen des Sachverständigen (vgl. Ergänzungsgutachten S. 6, Bl. 483 GA) erkennbare Verengung der Fahrbahn von links nach rechts und den erkennbar auf der rechten Fahrspur fahrenden Kläger offenkundig nicht getan.
5. Dem Kläger fällt demgegenüber kein Pflichtenverstoß zur Last.
a) Der Kläger hat insbesondere nicht gegen § 7 Abs. 4 StVO verstoßen. Die Pflichten des Verkehrs auf der durchgehenden bevorrechtigten Fahrbahn (vgl. dazu BGH, Urteil vom 8. März 2022 – VI ZR 47/21, Rn. 15, juris), wie sie sich aus dem in § 7 Abs. 4 StVO geregelten Reißverschlussverfahren ergeben, gelten nach dem Wortlaut der Vorschrift erst „unmittelbar vor der Verengung“ und auch nur dann, wenn der Abstand der auf den mehreren Fahrstreifen ankommenden Fahrzeuge kein Einordnen auf den durchgehenden Fahrstreifen mit ausreichendem Abstand (§ 4 StVO) mehr zulässt (vgl. KG, Urteil vom 11. Oktober 2010 – 12 U 148/09, Rn. 6 juris; OLG Frankfurt, Beschluss vom 8. Dezember 2003 – 16 U 173/03, juris; Feskorn, in: Freymann/Wellner aaO § 7 StVO Rn. 27 f.; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl., § 7 StVO Rn. 20; Diehl, ZfS 2004, 207; ders., Zfs 2020, 258). Davon kann hier nicht ausgegangen werden. Nach den Bekundungen des Klägers hätte der Reisebus problemlos hinter dem klägerischen Fahrzeug auf die rechte Spur wechseln können, sodass im Bereich der Spurverjüngung zwischen dem Reisebus und dem klägerischen Fahrzeug noch ausreichend Abstand bestanden hätte, um dem Fahrer des Reisebusses ein Einordnen zu ermöglichen. Insoweit bestand im Streitfall keine Reißverschlusssituation, wie sie von § 7 Abs. 4 StVO vorausgesetzt wird.
b) Auch ein sonstiger Pflichtenverstoß des Klägers ist nicht nachgewiesen. Insbesondere kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger unter
Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot (§ 1 Abs. 2 StVO) versucht hat, das Hinüberfahren des Reisebusses zu vereiteln (vgl. dazu KG Berlin, Beschluss vom 19. Oktober 2009 – 12 U 227/08, Rn. 10, juris; Feskorn aaO Rn. 28), oder dass der Kläger mit unangepasster Geschwindigkeit (§ 3 Abs. 1 StVO) gefahren ist.
6. Steht danach auf Beklagtenseite ein unfallursächlicher Verstoß gegen die Pflichten beim Fahrstreifenwechsel fest, während den Kläger kein
unfallursächliches Verschulden trifft, haftet der Beklagte für die Unfallfolgen allein (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 2014 – VI ZR 161/13, Rn. 13, juris; Senat, Urteil vom 16. Dezember 2003 – 3 U 144/03, Rn. 29, juris; Saarländisches Oberlandesgericht, Urteil vom 1. August 2019 – 4 U 18/19, Rn. 42, juris; KG, Urteil vom 10. Februar 2021 – 25 U 160/19, Rn. 8, juris; OLG Düsseldorf, Urteil vom 6. Februar 2018 – 1 U 102/17, Rn. 59, juris; Freymann in Geigel, Der Haftpflichtprozess, 29. Aufl., Kap. 27 Rn. 218 m.w.N.).“

Dieses Urteil zeigt, dass ein Gericht – wenn das Ergebnis der Beweisaugfnahme dies ermöglicht und die erforderliche Bereitschaft des Gerichts hierzu gegeben ist – im Rahmen der tatrichterlichen Entscheidungsfindung auch einem Unfallbeteiliften glauben kann, ohne dass weitere Beweismittel vorhanden sind.
Dies mag unbequemer und aufwändiger sein, als sich auf ein „non liquet“ zu berufen, eine gerechte Entscheidung erfordert dies jedoch u.E. in manchen Fällen.

Über den Autor:

Rechtsanwalt Klaus Spiegelhalter ist Fachanwalt für Verkehrsrecht in Saarlouis. Rechtsanwalt Spiegelhalter hilft in allen Fragen des Verkehrsrechts insbesondere bei der unbürokratischen Unfallabwicklung (auch per Web-Akte), Bußgeld, Führerscheinproblemen, Punkten in Flensburg usw.

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