Verkehrsrecht Saarlouis: maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Wiederbeschaffungswertes im Totalschadenfall – Berufungsurteil des LG Saarbrücken vom 13.06.2024

Der Fall:

Unser Mandanten erlitt bei einem Verkehrsunfall an seinem PKW einen Totalschaden.

Das Problem:

Die Versicherung erkannte den vom außergerichtlich tätigen Gutachter festgestellten Wiederbeschaffungswert nicht an, so dass wir die Restansprüche wegen des gekürzten Wiederbeschaffungswertes gerichtlich geltend machen mussten.

Das Urteil:

Unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils hat das Berufungsgericht der Klage zu einem weiteren Teil stattgegeben.

Knackpunkt der Entscheidung war die Frage, welcher Zeitpunkt für die Beurteilung des Wiederbeschaffungswertes maßgeblich ist: der Tag des Unfalls oder – wie es der BGH hinsichtlich der Reparaturkosten entschieden hat – der Tag der letzten mündlichen Verhandlung oder eine „Mischform“?

Dass es nicht ohne Weiteres der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung sein konnte, schien – unabhängig von der konkreten Fallgestaltung – jedenfalls grundsätzlich auf der Hand zu liegen, denn dann würde die Versicherung allein durch eine Verzögerung des Rechtsstreits immer weniger zu zahlen haben, weil ein KFZ bereits durch das „Älterwerden“ in der Regel an Wert verliert.

Doch was sollte stattdessen gelten,

Insbesondere angesichts der oben genannten BGH-Entscheidung ?

Das Berufungsgericht hat sich die Antwort nicht leicht gemacht und führt wie folgt aus:

  1. Mit Recht ist das Erstgericht zunächst davon ausgegangen, dass sich die Höhe des dem Kläger zu erstattenden Schadens nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB richtet.
  2.  Ebenfalls zutreffend ist die Annahme, dass der Anspruch des Klägers auf Wiederbeschaffung gerichtet ist. Denn ist das Kfz zerstört oder liegt ein sonstiger technischer Totalschaden vor, weil eine Reparatur technisch nicht möglich oder keine Betriebssicherheit gewährleistet ist – wie im vorliegenden Fall unstreitig –, beschränkt sich die Wiederherstellung auf die Wiederbeschaffung.
  3. Der Geschädigte hat also – wie das Amtsgericht richtig erkannt hat – Anspruch auf Ersatz der Kosten für den Erwerb eines Ersatzfahrzeuges, welche sich nach dem Wiederbeschaffungswert bestimmen (Freymann/Rüßmann in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 249 BGB (Stand: 07.03.2024), Rn. 88). Als Wiederbeschaffungswert wird grundsätzlich der nach den Verhältnissen auf dem Gebrauchtwagenmarkt zu ermittelnde Preis eines gebrauchten Kraftfahrzeugs bezeichnet, den der Geschädigte aufwenden muss, um von einem seriösen Händler einen unter Berücksichtigung aller wertbildenden Faktoren dem Unfallfahrzeug entsprechenden Ersatzwagen zu erwerben (vgl. BGH, Urteil vom 23.05.2017 – VI ZR 9/17, NJW 2017, 2401). Ein Geschädigter, der seinen Schaden nach Totalschaden fiktiv abrechnet, kann dabei lediglich den Nettowiederbeschaffungsaufwand ersetzt verlangen (Kammer, st. Rspr.; vgl. Urteile vom 22.03.2013 – 13 S 199/12, NZV 2014, 132, vom 25.06.2015 – 13 S 51/15 – und vom 09.12.2016 – 13 S 115/16 –). Daher ist auch zu ermitteln, ob solche Fahrzeuge üblicherweise auf dem Gebrauchtwagenmarkt nach § 10 UStG regelbesteuert oder nach § 25a UStG differenzbesteuert oder von Privat und damit umsatzsteuerfrei angeboten werden (Kammer, Urteil vom 03.04.2020 – 13 S 6/20 – Rn. 8, juris).
  4. Im konkreten Fall zu Unrecht hat die Erstrichterin sodann jedoch angenommen, dass es bei der Ermittlung des Wiederbeschaffungswertes auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankomme. Das Prozessrecht legt grundsätzlich die mündliche Tatsachenverhandlung als maßgeblichen Bewertungszeitpunkt nahe, dieser Zeitpunkt ist jedoch keineswegs zwingend (Freymann/Rüßmann in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 249 BGB (Stand: 07.03.2024), Rn. 60; MüKoBGB/Oetker, 9. Aufl. 2022, BGB § 249 Rn. 317).                                   

a) Zwar ist nach ständiger Rechtsprechung des BGH für die Bemessung des Schadensersatzanspruchs verfahrensrechtlich, wenn – wie hier (siehe sogleich) – noch nicht vollständig erfüllt ist, der prozessual letztmögliche Beurteilungszeitpunkt maßgeblich, regelmäßig also der Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung (BGH, Urteil vom 18.02.2020 – VI ZR 115/19 –, Rn. 11, juris). Außerdem hat der BGH klargestellt, dass die genannten Grundsätze auch auf die Abrechnung fiktiver Reparatur- und Wiederbeschaffungskosten Anwendung finden.                                     

b) Bei Anwendung dieser Rechtsprechung ist jedoch einerseits zu berücksichtigen, dass der BGH in seinem Urteil vom 18.02.2020 über die Berücksichtigung einer Preiserhöhung der Reparaturkosten bei fiktiver Schadensberechnung zu entscheiden hatte, nicht über die Frage der Beurteilung eines fiktiven Wiederbeschaffungswertes. Beide Fälle können jedoch nicht eins zu eins gleichgesetzt werden. Denn während es bei der Reparatur eindeutig feststeht, was der Geschädigte begehrt – Wiederherstellung des beschädigten Fahrzeugs – und die damit verbundenen Kosten für ihn ohne Bedeutung sind, ist eine Ersatzbeschaffung denknotwendig mit größeren Unwägbarkeiten verbunden. Der Geschädigte erhält gerade nicht seine ursprüngliche Sache zurück. Andererseits muss Beachtung finden, dass die vom BGH aufgestellten Grundsätze in erster Linie dem Schutz des Gläubigers gegen eine verzögerte Ersatzleistung des Schuldners dienen. Zusätzliche Schäden und eine Verteuerung der Wiederherstellungskosten vor vollständiger Erfüllung, etwa durch Preissteigerungen, sollen in der Regel zu Lasten des Schädigers gehen (BGH, Urteil vom 18.02.2020 – VI ZR 115/19 –, Rn. 11, juris). Ob die aufgestellten Grundsätze dann auch für dem Geschädigten nachteilige Preisveränderungen gelten, etwa wenn – wie hier aufgrund des höheren Alters – bei Abrechnung der Wiederbeschaffungskosten der Wiederbeschaffungswert des geschädigten Fahrzeugs bis zur letzten mündlichen Verhandlung gesunken ist, hat der BGH offengelassen. Dem steht gerade entgegen, dass das Abstellen auf den prozessual letzten Beurteilungszeitpunkt in erster Linie dem Schutz des Gläubigers gegen eine verzögerte Ersatzleistung des Schuldners dient. Die Seite 8/11 Berücksichtigung gläubigerbenachteiligender Preisveränderungen hätte demgegenüber zur Folge, dass die verzögerte Ersatzleistung des Schuldners belohnt würde (Freymann/Rüßmann in: Freymann/Wellner, jurisPKStraßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 249 BGB (Stand: 07.03.2024), Rn. 92). Hinzu kommt – was der vorliegende Fall, in dem saisonbedingte Preisunterschiede eine entscheidende Rolle spielen, eindrücklich zeigt –, dass die Höhe des Schadensersatzanspruches des Geschädigten gänzlich vom Zufall abhängen würde, wenn man auf den Schluss der letzten mündlichen Verhandlung abstellen würde. Dies ist jedoch weder dem Geschädigten noch dem Schädiger zumutbar.

c) Abzustellen ist daher bei der Bestimmung des Wiederbeschaffungswertes, jedenfalls wenn – wie hier – dieser Wert anschließend nicht steigt (siehe hierzu Ziffer e)), auf den Zeitpunkt des Unfalls (so auch BeckOK StVR/Türpe, 22. Ed. 15.1.2024, BGB § 249 Rn. 12; Ebert in: Erman BGB, Kommentar, 17. Auflage 2023, § 249 BGB, Rn. 88; OLG Düsseldorf, NZV 1997, 483, beck-online). Nicht zuletzt ist in diesem Zeitpunkt der Anspruch auf Schadensersatz auch entstanden.                                                                                                       

d) Die Ermittlung des Wiederbeschaffungswertes erfolgt durch eine Schätzung (§ 287 ZPO) (Freymann/Rüßmann in: Freymann/Wellner, jurisPKStraßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 249 BGB (Stand: 07.03.2024), Rn. 90). aa) Laut Gutachten des Sachverständigen Algier, welches für die Kammer – anders als das klägerische Privatgutachten des Sachverständigen (…) – transparent, nachvollziehbar und plausibel ist – betrug der Wiederbeschaffungswert des beschädigten Fahrzeugs zum Unfallzeitpunkt unter Zugrundelegung einer SchwackeNet-Zeitwertermittlung 6.700 EUR (Bl. 101 d.A.). bb) Dieser Betrag ist – entsprechend der Methodik des Sachverständigen zur Ermittlung des Wertes zu den späteren Zeitpunkten (10.01.2023, 10.07.2023) – um 22,25% zu erhöhen. Denn der Sachverständige hat – für die Kammer nachvollziehbar und plausibel – nicht allein auf die rein rechnerischen Werte nach Schwacke abgestellt, sondern hierauf nach Vornahme einer Marktanalyse jeweils einen Aufschlag (Bl. 110 d.A.; Bl. 150 d.A.) vorgenommen. Auf den Unfallzeitpunkt abstellend, konnte der Sachverständige eine – auf die Vergangenheit bezogene – konkrete Marktanalyse denknotwendig nicht vornehmen, so dass der Erhöhungssatz zu schätzen ist. Vorliegend erscheint es angezeigt, im Rahmen der Wertermittlung zum Unfallzeitpunkt den Erhöhungssatz aus Januar 2023 heranzuziehen, da dieser Zeitpunkt näher an Seite 9/11 dem des Unfallgeschehens liegt und die maßgebliche Erwägung des Sachverständigen – Erhältlichkeit des Fahrzeugs im gewerblichen Handel – zum Unfallzeitpunkt ebenso gegolten haben wird wie im Januar 2023. Es ist daher eine Erhöhung des sachverständig ermittelten SchwackeNet-Zeitwertes um 22,25% vorzunehmen, so dass sich im Unfallzeitpunkt ein Wiederbeschaffungswert von 8.190,75 EUR ergibt. cc) Abstellend auf den Bewertungszeitpunkt Januar 2023 und der Schätzung eines marktorientierten Wertes von 8.050 EUR hat der Sachverständige festgestellt: „Das zu bewertende Kraftrad wird überwiegend differenzbesteuert (von Händlern) angeboten. Insofern beinhaltet der Wiederbeschaffungswert den Mehrwertsteueranteil unter Berücksichtigung der Differenzbesteuerung gemäß § 25a UStG, der rein rechnerisch bei angenommenem 2,5%igen MwSt.-Anteil – 196,34 EUR – beträgt.“ (Bl. 110 d.A.). Auf dieser Grundlage ergibt sich im Unfallzeitpunkt ein Mehrwertsteueranteil in Höhe von 204,77 EUR, mithin ein – nach § 287 Abs. 1 ZPO geschätzter – Netto-Wiederbeschaffungswert von 7.986 EUR. e) Die Kammer ist dabei davon überzeugt, dass der Wiederbeschaffungswert des klägerischen Motorrades zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz kein höherer war als der zum Unfallzeitpunkt. Dies folgt aus dem Verlauf der Begutachtung des Sachverständigen, der zwischen Januar 2023 und Juli 2023 einen sinkenden Wert konstatierte, und entspricht letztlich auch der Argumentation des Klägers selbst, der ebenfalls annimmt, der Wert des Motorrades nehme mit zunehmendem Alter ab. Seiner Auffassung, man müsse schadensersatzrechtlich zu einem späteren Zeitpunkt die Parameter des Fahrzeugs zum Unfallzeitpunkt zugrunde legen, vermag die Kammer indes nicht zu folgen. Denn dies stünde zum einen im Widerspruch zum Grundsatz der Naturalrestitution; das schadensersatzrechtliche Ziel der Restitution besteht in umfassender Weise darin, einen Zustand herzustellen, der wirtschaftlich gesehen der ohne das Schadensereignis bestehenden (hypothetischen) Lage entspricht (BGH, Urteil vom 17.10.2006 – VI ZR 249/05 –, BGHZ 169, 263-270, Rn. 10). Ohne das schädigende Ereignis hätte der Kläger – auch später – aber gerade ein Fahrzeug, welches im April 2013 erstmals zugelassen wurde. Darüber hinaus gilt das Verbot, sich durch Schadensersatz zu bereichern. Denn auch wenn er vollen Ersatz verlangen kann, soll der Geschädigte an dem Schadensfall nicht „verdienen“ (BGH, Urteil vom 17.10.2006 – VI ZR 249/05 –, BGHZ 169, 263-270, Seite 10/11 Rn. 11). Der Kläger hat keinen Anspruch auf ein Fahrzeug, was am Schluss der mündlichen Verhandlung so alt ist wie sein Fahrzeug zur Zeit des Unfalls war, denn dies würde bedeuten, dass er ggf. auch ein – höherwertigeres – Nachfolgemodell verlangen könnte und somit durch den Unfall besser stünde als ohne schädigendes Ereignis. Vorliegend spielt dies im Ergebnis jedoch, da die Kammer ohnehin auf den Unfallzeitpunkt abstellt, auch keine Rolle. Nach alldem schätzt die Kammer den Netto-Wiederbeschaffungswert des klägerischen Fahrzeugs auf 7.986 EUR, mithin 236 EUR mehr als vom Amtsgericht angenommen.

Dass diese Entscheidung durchaus keine Selbstverständlichkeit darstellt, kann man schon daran sehen, dass die Revision zugelassen wurde.

Wir werden das Aktenzeichen und die Urteilsgründe zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlichen.

Über den Autor:
Rechtsanwalt Klaus Spiegelhalter ist Fachanwalt für Verkehrsrecht in Saarlouis. Rechtsanwalt Spiegelhalter hilft in allen Fragen des Verkehrsrechts insbesondere bei der unbürokratischen Unfallabwicklung (auch per Web-Akte), Bußgeld, Führerscheinproblemen, Punkten in Flensburg usw.

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