Der Fall:
Unser Mandant befuhr eine Vorfahrtstraße, bei der rechts vor links galt. Da der Vorfahrtsverpflichtete ebenfalls in den Kreuzungsbereich einfuhr, kam es zur Kollision.
Das Problem:
Die gegnerische Haftpflichtversicherung wandte eine Mithaftung von 25 % ein, weil unser Mandant angeblich die Kollision bei der erforderlichen Aufmerksamkeit hätte vermeiden können.
Das Urteil:
Das Amtsgericht hat unserer Klage vollständig stattgegeben auf Grundlage einer Haftungsquote von 100 zu 0.
In den ausgesprochen sorgfältig ausgearbeiteten Urteilsgründen führt das Gericht unter anderem wie folgt aus:
„Sind – wie vorliegend – mehrere Kraftfahrzeuge an einem Unfall beteiligt, haften also mehrere Fahrzeughalter/fahrer nebeneinander, so hängt die Höhe des jeweils von den einzelnen Fahrzeughaltern zu tragenden Schadensersatzes jedoch gemäß § 17 Abs. 1 und 2 StVG davon ab, inwieweit der Verkehrsunfall von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Im Rahmen der hier zu treffenden Abwägung der Verursachungsbeiträge kommt eine Alleinhaftung in Betracht, wenn das Verschulden des Anderen an dem Unfall derart hoch war, dass eine eventuelle geringfügie Mitverursachung des anderen Fahrzeugführers und die Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs hinter diesem hohen Verschulden aus Gerechtigkeitsgesichtspunkten vollständig zurücktreten muss.
Dabei sind in die Abwägung der Verursachungsbeiträge nur alle festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls einzubeziehen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das feststellbare Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 231/17 –, Rn. 10, juris).
(1)
Im Rahmen der danach gebotenen Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile, ist zu Lasten der Beklagtenseite ein Verstoß gegen § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO („rechts vor links“), durch welchen der Unfall (mit-)verschuldet wurde, einzubeziehen. Dies wird auch von den Beklagten nicht in Zweifel gezogen.
Nach § 8 Abs. 2 StVO muss der Wartepflichtige rechtzeitig durch sein Fahrverhalten, insbesondere durch mäßige Geschwindigkeit, erkennen lassen, dass gewartet wird. Es darf nur weitergefahren werden, wenn übersehen werden kann, dass wer die Vorfahrt hat, weder gefährdet noch wesentlich behindert wird. Kann das nicht übersehen werden, weil die Straßenstelle unübersichtlich ist, so darf sich vorsichtig in die Kreuzung oder Einmündung hineingetastet werden, bis die Übersicht gegeben ist. Mäßige Geschwindigkeit bedeutet, dass der wartepflichtige Verkehrsteilnehmer die Vorfahrt mühelos und ohne Gefahr für den anderen Verkehrsteilnehmer ermöglichen kann. Hierfür muss er sich so verhalten, dass er die Kontrolle über die Situation behält und sicher vor einem vorfahrtberechtigten Fahrzeug anhalten kann. (OLG Köln v. 12.10.2022 – 16 U 194/21 – juris Rn. 9
Nach den Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. Priester, der dem Gericht aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt ist und an dessen Sach- und Fachkunde kein Anlass zu Zweifeln besteht, wäre die Annäherung des klägerischen Fahrzeugs hinreichend frühzeitig und weiträumig erkennbar gewesen, wenn sich die Beklagte zu 2) mit Schrittgeschwindigkeit der Kreuzung genähert oder aus dem Stillstand in diese hineingefahren wäre. Dieses wäre auch im Hinblick auf die durch die Bepflanzung begrenzte Einsehbarkeit der Straße „Herkeswald“ auch erforderlich gewesen Das Gericht schließt sich auch diesbezüglich nach eigener Prüfung den Ausführungen des Sachverständigen an. Dieser legte anschaulich seinem schriftlichen Gutachten dar, die Aussage der Zeugin Kuhn sei insoweit nicht ergiebig sei, da nach den Darlegungen des Sachverständigen, diese zwar, ausgehend von er ihr angegebenen Opposition, länger zeitig die Annäherung des klägerischen Pkw verfolgen und beobachten konnte, das Beklagtenfahrzeug jedoch lediglich circa eine Sekunde in ihrem Erkennbarkeitsfeld gewesen sei. (2) Einen Sorgfaltsverstoß der Klägerseite konnten die hierfür darlegungs- und beweisbelasteten Beklagten nicht nachweisen. Zwar liegt hier ein Fall der sog. „halben Vorfahrt“ vor, in dem der Kläger mangels besonderer Beschilderung gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 StVO gegenüber den von rechts kommenden Verkehrsteilnehmern wartepflichtig, gegenüber den von links kommenden Verkehrsteilnehmern jedoch vorfahrtsberechtigt war („rechts vor links“). In einem solchen Fall darf ein Verkehrsteilnehmer grundsätzlich darauf vertrauen, dass der ihm gegenüber wartepflichtige, von links kommende Verkehrsteilnehmer sein Vorfahrtsrecht beachtet (vgl. BGH, Urteil vom 21. Mai 1985 – VI ZR 201/83 –, juris Rn. 17; OLG Hamm, Urteil vom 9. Juni 2020 – I-7 U 19/19 –, Rn. 54, juris; Kammer, zuletzt Urteil vom 2. Juli 2021 – 13 S 40/21). Allerdings können den Vorfahrtsberechtigten in Fällen der „halben Vorfahrt“ aus anderem Grunde auch Schutzpflichten zugunsten des Wartepflichtigen treffen. Nach § 8 Abs. 2 Satz 1 StVO muss auch ein Verkehrsteilnehmer, der sich einer Kreuzung mit „halber Vorfahrt“ nähert, jedenfalls bei nach rechts schlecht einsehbaren Kreuzungen (BGH, Urteil vom 21. Mai 1985 – VI ZR 201/83 –, Rn. 17, juris; Spelz in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 8 StVO (Stand: 10.07.2023), Rn. 69) mit mäßiger Geschwindigkeit an die Kreuzung heranfahren und sich darauf einstellen, notfalls anhalten zu können, um einem Vorfahrtsberechtigten die Vorfahrt zu gewähren (OLG Köln, Urteil vom 12. Oktober 2022 – I-16 U 194/21 –, Rn. 8, juris mwN). Nach § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO muss er seine Geschwindigkeit u.a. den Straßen- und Verkehrsverhältnissen anpassen (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 15. Februar 2011 – I-1 U 103/10 –, Rn. 4, juris). Nach § 1 Abs. 1, 2 StVO muss er auf andere Verkehrsteilnehmer Rücksicht nehmen (Kammer, zuletzt Urteil vom 2. Juli 2021 – 13 S 40/21). Unabhängig von der Frage, welche Vorschrift im Einzelfall schwerpunktmäßig betroffen ist, besteht im Ergebnis jedenfalls Einigkeit darüber, dass diese Vorschriften ganz allgemein den Zweck verfolgen, Zusammenstöße an gefährlichen und unübersichtlichen Straßenstellen durch das Gebot zu einer vorsichtigen Fahrweise zu vermeiden. Die regelmäßig als „halbe Vorfahrt“ beschriebene Verkehrssituation dient dabei nicht nur dem Schutz eines von rechts kommenden Vorfahrtberechtigten, sondern dem Schutz aller Verkehrsteilnehmer, also auch dem eigentlich von links kommenden Wartepflichtigen (OLG Hamm, aaO Rn 53; OLG Köln, aaO; Kammer, Urteil vom 21. Oktober 2011 – 13 S 117/11 –, Rn. 15, juris jeweils mwN aus der Rechtsprechung). Hieraus folgt jedoch nicht, dass der Vorfahrtsberechtigte bei „halber Vorfahrt“ regelmäßig mithaftet. (LG Saarbrücken, Urteil vom 10. November 2023 – 13 S 30/23 –, Rn. 23 – 25, juris) Seite 7/9 Eine Mithaftung unter dem Gesichtspunkt „halbe Vorfahrt“ käme dann in Betracht, wenn der Zusammenstoß durch eine zu hohe Geschwindigkeit des Vorfahrtsberechtigten mitverursacht worden wäre. Wenn der Vorfahrtsberechtigte sich einer unübersichtlichen und nach rechts schlecht einsehbaren Kreuzung so schnell annähert, dass ihm die Erfüllung seiner Wartepflicht gegenüber einem von rechts kommenden Fahrzeugführer unmöglich ist und es infolgedessen zu einem Zusammenstoß kommt, so hat er den Unfall auch dann mitverschuldet, wenn das in Mitleidenschaft gezogene andere Fahrzeug nicht von rechts, sondern von links kam und ihm gegenüber wartepflichtig war (Kammer, Urteil vom 2. Juli 2021 – 13 S 40/21 mwN). Die insoweit darlegungs- und beweisbelasteten Beklagten haben eine unangemessene Geschwindigkeit des Klägers jedoch nicht nachgewiesen. Der gerichtlich bestellt Sachverständige Dr. Priester legte in seinen in sich stringenten und nachvollziehbaren Ausführungen dar, dass klägerseits auch mit einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h auf von rechts kommenden Verkehr hätte reagiert werden können; dort lag eine weiträumige Sicht-und Erkennbarkeit vor. Da der Kläger dementsprechend der ihm obliegende Wartepflicht gegenüber dem für ihn von rechtskommenden Verkehr hätte nachkommen können, traf ihn insoweit auch unter dem Gesichtspunkt der „halben Vorfahrt“ keine Sorgfaltspflicht seine Geschwindigkeit zu reduzieren. Eine höhere Geschwindigkeit als 30 km/h ist nach der Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme nicht zu Lasten des Klägers nachweisbar. Insbesondere bietet die Zeugenaussage der Zeugin Kuh hierfür keine konkreten Anknüpfungstatsachen. (3) Lassen sich somit in die Haftungsabwägung lediglich Verstöße der Beklagten zu 2) – maßgeblich der Vorfahrtsverstoß – einstellen, tritt die Betriebsgefahr des vorfahrtsberechtigten Klägers auch in Fällen der „halben Vorfahrt“ regelmäßig – so auch hier – zurück, so dass die Beklagten für die Unfallfolgen allein haften (st. Rspr. LG Saarbrücken, vgl. zuletzt Urteil vom 2. Juli 2021 – 13 S 40/21).“
Das Aktenzeichen werden wir nach Rechtskraft veröffentlichen.
Über den Autor:
Rechtsanwalt Klaus Spiegelhalter ist Fachanwalt für Verkehrsrecht in Saarlouis. Rechtsanwalt Spiegelhalter hilft in allen Fragen des Verkehrsrechts insbesondere bei der unbürokratischen Unfallabwicklung (auch per Web-Akte), Bußgeld, Führerscheinproblemen, Punkten in Flensburg usw.
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