Der Fall:
Eine Dame kam in der Saarbahn zum Sturz, weil diese sich nach dem Einsteigen nicht ausreichend festgehalten hatte, als der Fahrer anfuhr.
Das Urteil:
Das OLG hat entschieden, dass hier eine Haftung der Saarbahn aus der Betriebsgefahr vollständig hinter das Eigenverschulden des Fahrgastes zurücktritt, so dass ein Anspruch auf Schadensersatz bzw. Schmerzensgeld hier nicht gegeben war.
Im Einzelnen führt das Gericht u.a. wie folgt aus:
„a) Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass den Fahrgast die Verpflichtung trifft, unmittelbar nach dem Zusteigen einen Sitzplatz einzunehmen oder sich zumindest einen sicheren Halt und Stand zu verschaffen und so der Gefahr eines Sturzes zu begegnen (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 29. April 2022- 11 U 198/21 -j Rn. 16, juris; OLG Dresden, Beschluss vom 26. März 2014- 7 U 1506/13 Rn. 8, juris; KG Berlin, Beschluss vom August 2011 – 22 W 50/11 Rn. 13, juris). Denn aus 4 Abs. 3 Satz 5 BefBedV folgt für den Fahrgast die Verpflichtung, sich „stets“ festen Halt zu verschaffen. Er ist daher se/bst dafür verantwortlich, dass er durch typische und zu erwartende Bewegungen des Verkehrsmittels nicht zu Fall kommt, wobei erjederzeit während der Fahrt und auch außerhalb von Fahrfehlern des Fahrzeugführers mit ruckartigen Bewegungen und sogar einem scharfen Bremsen des Verkehrsmittels rechnen muss (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 1. Dezember 2021 — 11 U 73/21 -, Rn. 17, juris,• OLG München, Urteil vom 20. Dezember 2019 – 10 U 3110/17-, Rn. 34, juris; OLG Dresden, Urteil vom 3. November 2017— 1 U 62/16 —, Rn. 35, juris).
Nach den von der Berufung nicht angegriffenen Feststellungen des Landgerichts hatte die Klägerin zwischen dem Schließen der Türen und dem Anfahren 5 bis 7 Sekunden Zeit, für einen sicheren Halt zu sorgen. In dieser Zeit durchschritt sie über mehrere Meter den Fahrgastinnenraum, ohne sich festzuhalten oder einen sicheren Stand zu verschaffen, wobei sie mehrere Hatestangen und eine freie Warte-/Haltebucht passierte.
Dass das Landgericht danach von einem Pflichtverstoß der Klägerin ausgegangen ist, begegnet — auch mit Blick auf die Besonderheiten der Corona-Situation — keinen Bedenken.
Demgegenüber hat das Landgericht auf Beklagtenseite mit Recht keinen Pflichtverstoß festgestellt. Es ist zutreffend davon ausgegangen, dass sich ein Triebwagenführer nur im Ausnahmefall vergewissern muss, ob ein Fahrgast Platz oder Ha/t im Wagen gefunden hat, wenn eine erkennbare schwere Behinderung des Fahrgastes ihm die Überlegung aufdrängt, dass der Fahrgast ohne besondere Rücksichtnahme gefährdet ist (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 26. Juni 2018 — 14 U 70/18 — Rn. 10, juris; OLG Hamm, Urteil vom 29. April 2022 — 11 U 198/21 —, Rn. 10, juris). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Auch verlangte die Corona-Situation von dem Triebwagenführer nicht, sich ungeachtet dieser Voraussetzungen zu vergewissern, dass die Klägerin sicheren Halt oder Platz gefunden hatte. Wie ausgeführt stellte bereits die angeordnete Maskenpflicht eine ausreichende Schutzmaßnahme für die Fahrgäste dar. Der Triebwagenführer durfte daher darauf vertrauen, dass die Klägerin nach dem Zusteigen umgehend sicheren Halt oder Platz nimmt, selbst wenn dabei ein größerer Sicherheitsabstand zu anderen Fahrgästen nicht gewahrt werden konnte. „
„e) Im Ergebnis mit Recht hat das Landgericht schließlich angenommen, dass die Klägerin die Sturzfolgen al/eine zu tragen hat. Steht — wie hier— fest, dass ein Fahrgast, der in einem Bus oder einer Straßenbahn zu Fall gekommen ist, sich entgegen seiner Verpflichtung nicht festgehalten hat, spricht die Erfahrung des täglichen Lebens dafür, dass der Sturz jedenfalls weit überwiegend auf einer Unachtsamkeit des Fahrgastes beruht (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 26. Juni 2018 — 14 U 70/18 —, Rn. 24, Juris; OLG Hamm, Urteil vom 17. Februar 2017- 11 U 21/16-, Rn. 24, juris; OLG Frankfurt, Urteil vom 17. November 2015- 12 U 16/14 Rn. 29, juris; KG Berlin, Urteil vom 7. Mai 2012 – 22 U 251/11 Rn. 23, juris; OLG Koblenz, Urteil vom 14. August 2000 – 12 U 893/99-, Rn. 13, juris). Dabei kann die auf Seiten des Betreibers eines Linienbusses bzw. einer Straßenbahn zu berücksichtigende Betriebsgefahr im Einzelfall gänzlich zurücktreten (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 28. Februar 2018- 11 U 57/17-, Rn. 14, juris,• OLG Celle, Urteil vom 2. Mai 2019 – 14 U 183/18 Rn. 11, Juris; OLG Dresden, Beschluss vom 26. März 2014— 7 U 1506/13 —, Rn. 11, juris; OLG Düsseldorf, Urteil vom 27. November 2012 – 1 U 50/12-, Rn. 34, juris; KG Berlin, Urteil vom 7. Mai 2012 – 22 U 251/11 Rn. 29, juris; Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Urteil vom 9. Mai 2011 — 3 U 19/10—, Rn. 30, juris).
So liegt es auch hier. Das Verschulden der Klägerin geht deutlich über eine einfache Fahrlässigkeit hinaus und erreicht einen Grad, der ein vollständiges Zurücktreten der Betriebsgefahr rechtfertigt. Als zuletzt Einsteigende musste die Klägerin damit rechnen, dass sie vor der Abfahrt keinen Sitzplatz mehr erreichen kann, sondern einen unvermeidlichen Anfahrruck stehend überwinden muss (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 16. November 2010 — 14 U 209/09 Rn. 36, juris). Dies lag hier umso mehr auf der Hand, als die Klägerin erst nach Beendigung des eigentlichen Fahrgastwechse/s zugestiegen ist. Sie konnte daher vernünftigerweise nicht damit rechnen, dass ihr bis zum Anfahren ein ausreichend langer Zeitraum zum Erreichen des von ihr bevorzugten Platzes zur Verfügung stehen würde.
Gleichwohl versuchte die Klägerin über einen Zeitraum von mehreren Sekunden zu einem weiter entfernt gelegenen Sitzplatz zu gelangen, anstatt sich umgehend sicheren Halt zu verschaffen, um den unmittelbar bevorstehenden Anfahrvorgang abzuwarten. Zudem hielt sie sich beim Durchschreiten des Fahrgastraums nicht an den Haltestangen und -schlaufen fest. Bereits dies geht deutlich über eine einfache Fahrlässigkeit hinaus. Hinzu tritt, dass die Klägerin zwei Taschen auf dem rechten Arm trug und nur die linke Hand frei hatte. Hierdurch waren ihre Möglichkeiten, auf den zu erwartenden Anfahrruck entsprechend zu reagieren, erheblich eingeschränkt. Dies musste die Klägerin umso mehr veranlassen, schnellstmöglich sicheren Halt zu suchen. Damit liegt — auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das Verhalten der Klägerin ersichtlich von dem Bestreben geprägt war, in Zeiten der Corona-Pandemie einen größtmöglichen Schutz für sich und auch andere Fahrgäste zu gewährleisten — ein schwerwiegendes Verschulden der Klägerin gegen sich selbst vor, die unter erheblichen Verstoß gegen Treu und Glauben diejenigen Maßnahmen unterlassen hat, die ein ordentlicher und verständiger Mensch an ihrer Stelle zur Schadensabwehr ergreifen würde (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 17. November 2020— VI ZR 569/19—, Rn. 7, juris). Dies rechtfertigt es, die auf Beklagtenseite al/ein zu berücksichtigende Betriebsgefahr vollständig zurücktreten zu lassen. „
Über den Autor:
Rechtsanwalt Klaus Spiegelhalter ist Fachanwalt für Verkehrsrecht in Saarlouis. Rechtsanwalt Spiegelhalter hilft in allen Fragen des Verkehrsrechts insbesondere bei der unbürokratischen Unfallabwicklung (auch per Web-Akte), Bußgeld, Führerscheinproblemen, Punkten in Flensburg usw.
Das Fachanwaltsprofil von Klaus Spiegelhalter .
Das Verkehrsrechtsportal finden Sie hier:
http://www.schadenfix.de/saarlouis/spiegelhalter