In vielen Fällen scheint der gesunde Menschenverstand nicht auszureichen, um sich widersprechende Sachverhaltsschilderungen korrekt zu beurteilen. Anhand von Sachverständigengutachten lässt sich häufig klären, welche Aussage der Wahrheit entspricht.
Ein Radfahrer kam nach einem Verkehrsunfall zu mir. Ihm wurde vorgeworfen er hätte sich unerlaubt vom Unfallort entfernt (= Fahrerflucht). Der Fall hörte sich so merkwürdig an, dass er schon wieder wahr sein musste. Der Mandant erzählte folgenden Sachverhalt:
Er fuhr mit seinem Fahrrad in Berlin-Mitte (Nähe Brandenburger Tor) auf einer stark befahrenen Straße, obwohl ein Radweg vorhanden war. Es kann sogar sein, dass dieser benutzungspflichtig war. Mein Mandant wurde von einem Taxifahrer mit dessen Taxe bedrängt und angehupt. Danach bog das Taxi rechts ab und mein Mandant folgte dem Straßenverlauf, um an der nächsten Kreuzung rechts abzubiegen. An der dann folgenden Ampel sah mein Mandant das Taxi wieder. Es stand aus seiner Sicht in der von rechts kommenden Straße an der roten Ampel und wollte abbiegen. Mein Mandant fuhr auf das Taxi zu und wollte den Fahrer wegen des Schneidens zur Rede stellen. Als der Taxifahrer meinen Mandanten erblickte fuhr dieser an und machte einen Schlenker in Richtung des Fahrrades. Dabei berührten sich die beiden Fahrzeuge. Der Taxifahrer öffnete dann auch noch die Tür und schlug damit gegen das Fahrrad. Der Taxifahrer schrie nun meinen Mandanten an, dass er gerade einen Unfall verursacht hätte und dafür zahlen müsse. Es gab wohl eine heftige Auseinandersetzung zwischen den beiden Verkehrsteilnehmern und man einigte sich darauf keine Polizei zu holen. Mein Mandant fuhr dann weiter. Vor einem Taxistand wurde er erneut von dem Taxifahrer geschnitten. Es kam zu einer Schlägerei, in die dann auch noch andere Taxifahrer eingriffen.
Der Sachverhalt des Taxifahrers las sich in der polizeilichen Ermittlungsakte so: Der Taxifahrer stand mit seiner Taxe an der roten Ampel und wollte mit seinem Fahrzeug rechts abbiegen. Als die Ampel grün wurde fuhr er los. Plötzlich kam von hinten ein Radfahrer. Beim Überholen soll dieser mit seinem Fahrrad Kratzer an der linken Seite der Taxe verursacht haben. Es gab direkt an der Unfallstelle eine Auseinandersetzung und der Taxifahrer soll den Radfahrer aufgefordert haben, das Eintreffen der Polizei abzuwarten. Der Radfahrer wollte jedoch fliehen, sodass der Taxifahrer dem Radfahrer folgen musste. Auf Höhe eine Taxistandes konnte er den Radfahrer endlich stellen. Es kam zur Auseinandersetzung.
Im ersten Moment klingt die Geschichte des Radfahrers wie an den Haaren herbeigezogen. Die Version des Taxifahrers ist dagegen leichter zu glauben. Es ist damit verständlich, dass dem Radfahrer der Vorwurf der Fahrerflucht gemacht wurde. Ich hatte meine Zweifel. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Radfahrer in einer Rechtskurve überholt, mit seiner rechten Seite an ein Hindernis stößt und dabei nicht nach links stürzt. Die Spuren und Beschädigungen an dem Taxi stammten alle von den Reifen bzw. von den Pedalen des Fahrrades. Es fanden sich keine Spuren vom Lenker. Ich fragte mich und die Amtsanwaltschaft, wie das gehen soll. Leider wollte sich die Anklage diese Frage nicht selbst stellen und so kam es zum Gerichtsverfahren. Dort konnte durch ein eigenes und durch ein gerichtlich in Auftrag gegebenes Gutachten belegt werden, dass die Angaben des Taxifahrers nicht stimmten. Es ließ sich feststellen, welche Positionen die Fahrzeuge bei der Berührung hatten. Es folgte der Freispruch.
Weitere Informationen: Buch zum Thema Fahrerflucht
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