Ein Kuss mit tödlichen Folgen!

Haftet ein Fahrzeuglenker, der es verkehrsrechtswidrig unterlassen hat, seinen Sicherheitsgurt anzulegen, auch dann mit, wenn dem Unfallverursacher ein schwerwiegendes Fehlverhalten vorzuwerfen ist?

 

Was war passiert?

Am Ende der ersten Jahreshälfte 2010 befuhr die Fahrerin eines Peugeot 206, die kurze Zeit zuvor ein Kind per Kaiserschnitt entbunden hatte, im Saarland eine Landstraße zwischen zwei Ortschaften. Aus entgegengesetzter Richtung kam ihr ein VW Golf entgegen, den ein junger Mann lenkte; auf dem Beifahrersitz saß dessen Freundin. Unmittelbar bevor die beiden Fahrzeuge einander passierten, geriet der Fahrer des VW Golf um mindestens 1,6 m von seiner Fahrbahn über die Fahrbahnmitte auf die von dem Peugeot 206 befahrenen Fahrbahnseite ab. Die beiden Fahrzeuge kollidierten auf der Fahrbahn des Peugeot 206 frontal so heftig, dass es diesen in Fahrtrichtung nach rechts von der Fahrbahn schleuderte und er etwa 5 m neben der Straße auf dem Dach liegen blieb. Die Fahrerin des Peugeot 206 erlitt schwere Verletzungen und verstarb an den unfallbedingten Verletzungen.

 Die polizeilichen Ermittlungen zur Aufklärung des Unfallgeschehens deckten unter anderem Umstände auf, die mit großer Wahrscheinlichkeit belegten, dass die Fahrerin des Peugeot 206 ihren Sicherheitsgurt zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens nicht angelegt hatte.

 Der Kfz-Haftpflichtversicherer setzte aufgrund dieses Ermittlungsergebnisses bei der Regulierung der Schadensersatzansprüche der tödlich verunglückten Peugeot 206-Fahrerin eine Mithaftung von zuletzt 40 % an.

 Der Erbe der verstorbenen Peugeot 206-Fahrerin, ihr neugeborener Sohn, akzeptierte den Mithaftungseinwand des Kfz-Haftpflichtversicherers des VW Golf-Fahrers nicht und klagte vor dem Landgericht Saarbrücken (Entscheidung vom 15. Februar 2012, Az: 5 O 17/11).

 

 Vortrag des Sohnes der Peugeot 206-Fahrerin im Gerichtsprozess

Der klagende Erbe der Peugeot 206-Fahrerin bestritt im Rahmen des Gerichtsverfahrens vor dem Landgericht Saarbrücken, dass seine Mutter zum Zeitpunkt des Unfalles ihren Sicherheitsgurt nicht angelegt gehabt habe.

Unabhängig davon vertrat der Kläger im Gerichtsprozess die Ansicht, dass selbst dann, wenn seine Mutter nicht angeschnallt gewesen wäre, dieser bestrittene Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung nicht zu einer Mithaftung führte, weil der VW Golf-Fahrer seine Sorgfaltspflichten, die mit der Teilnahme am Straßenverkehr entstehen, in gröbster Weise verletzt habe. Der Sohn der Peugeot 206-Fahrerin warf dem VW Golf-Fahrer nämlich vor, unmittelbar vor dem Unfall mit seiner Beifahrerin Zärtlichkeiten ausgetauscht zu haben, weshalb sein von ihm gelenktes Fahrzeug von dessen Fahrbahn auf die Gegenfahrbahn abgekommen und ungebremst mit dem Peugeot 206 frontal zusammengestoßen sei. Darüber hinaus sei der VW Golf-Fahrer bereits davor schon einmal mit seinem Fahrzeug von seiner Richtungsfahrbahn abgekommen und hätte dabei beinahe einen Unfall mit einem entgegenkommenden Van verursacht. Auch zu diesem Zeitpunkt sei der VW Golf-Fahrer mit seiner Beifahrerin „beschäftigt“ gewesen. Dieser Beinahe-Unfall, so der Sohn der Peugeot 206-Fahrerin, hätte  den VW Golf-Fahrer zur Warnung gereichen müssen; er habe sich aber über dieses zwingend sich aufdrängende Warnsignal bedenkenlos hinweggesetzt.

Im Übrigen wandte der Sohn der verstorbenen Peugeot 206-Fahrerin ein, seine Mutter wäre nach § 21 a StVO zum Unfallzeitpunkt nicht verpflichtet gewesen, den im Fahrzeug befindlichen Sicherheitsgurt anzulegen: Sie habe den Kläger kurze Zeit vor dem Unfall per Kaiserschnitt zur Welt gebracht, weswegen für sie das Anlegen des Gurtes um den Unterbauch mit erheblichen Schmerzen verbunden und damit unzumutbar gewesen wäre.

Schließlich bestritt der Kläger den Vortrag des Kfz-Haftpflichtversicherers des VW Golf-Fahrers im Rahmen des Gerichtsprozesses, dass seine Mutter die schweren tödlichen Verletzungen nicht erlitten hätte, wenn sie angeschnallt gewesen wäre.

 

Vortrag des Kfz-Haftpflichtversicherers des VW Golf-Fahrers im Gerichtsprozess

Der Kfz-Haftpflichtversicherer des VW Golf-Fahrers vertrat im Prozess die Ansicht, dass eine Mithaftungsquote von 40 % anzusetzen sei, weil die Fahrerin des Peugeot 206 ihren Sicherheitsgurt nicht ordnungsgemäß angelegt hatte. Dieser Verstoß gegen § 21 StVO habe zu schwersten Kopfverletzungen geführt, weil die Peugeot 206-Fahrerin beim Zusammenstoß der beiden unfallbeteiligten Fahrzeuge und/oder beim Überschlagen des Peugeot 206 mit dem Kopf gegen das Fahrzeugdach und/oder gegen die Frontscheibe gestoßen sei. Hätte sie ihren Sicherheitsgurt angelegt gehabt, hätte sie keine tödlichen Verletzungen erlitten.

Der Versicherer des VW Golf-Fahrers bestritt, dass der junge VW Golf-Fahrer während der Fahrt Zärtlichkeiten mit seiner Beifahrerin ausgetauscht habe.

Schließlich würde eine Mithaftung der Peugeot 206-Fahrerin durch die Pflichtverletzung des VW Golf-Fahrers, nämlich von seiner Richtungsfahrbahn abgekommen zu sein, nicht verdrängt.

 

Was konnte das Gericht aufklären?

Das Landgericht Saarbrücken vernahm einen Zeugen, der mit seinem Fahrzeug den VW Golf-Fahrer über eine längere Strecke unmittelbar folgte. Der Zeuge beobachtete, als er hinter dem unfallverursachenden VW Golf mit seinem Fahrzeug wegen Rotlichts vor einer Lichtzeichenanlage am Ortsausgang stand, wie der Fahrer des VW Golf mit seiner Beifahrerin schmuste und diese küsste. Der VW Golf-Fahrer sei mit seiner Beifahrerin so beschäftigt gewesen, dass er das Umschalten der Lichtzeichenanlage auf Grünlicht nicht bemerkt habe. Um die Aufmerksamkeit des VW Golf-Fahrers auf die geänderte Straßenverkehrslage zu richten, habe er hupen müssen.

Nachdem der VW Golf-Fahrer losgefahren sei, habe er sich ein weiteres Mal zu seiner Beifahrerin hinübergebeugt, um diese zu küssen. Währenddessen sei der VW Golf nahezu vollständig auf die Gegenfahrbahn abgekommen. Ein entgegenkommender Van habe eine Kollision nur noch durch Ausweichen vermeiden können.

Unmittelbar vor der Kollision des VW Golf mit dem Peugeot 206 habe sich der VW Golf-Fahrer noch ein weiteres Mal zu seiner Beifahrerin hinübergebeugt. Dabei kam der VW Golf wiederum auf die Gegenfahrbahn und stieß frontal mit dem entgegenkommenden Peugeot 206 zusammen. Die Geschwindigkeit des VW Golf gab der Zeuge bei seiner Vernehmung mit etwa 60 km/h bis 70 km/h an.

 

Wie hat das Gericht entschieden?

Nach dem Urteil des Landgerichts Saarbrücken war die Fahrerin des Peugeot 206 trotz ihrer kurz zuvor durchgeführten Entbindung durch Kaiserschnitt nicht von der Gurtanlegepflicht nach § 21 a Abs. 1 StVO befreit. In § 21 a StVO regelte der Gesetzgeber Ausnahmen, die die Pflicht zum Anlegen des Sicherheitsgurtes entfallen lassen. Eine Entbindung durch Kaiserschnitt unterfällt diesen Ausnahmeregelungen nicht.

Sodann prüfte das Landgericht Saarbrücken hypothetisch, ob das im Streit stehende Mitverschulden der Peugeot 206-Fahrerin wegen Verstoßes gegen die Anschnallpflicht hier ausnahmsweise zu keiner Mithaftung führen würde. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes entfällt eine Mithaftung des schwerverletzten Unfallbeteiligten wegen Nichtanlegen des Sicherheitsgurts, wenn dem Unfallverursacher ein schwerwiegendes Fehlverhalten vorzuwerfen ist. Dies ist beispielsweise bei Fahruntüchtigkeit nach Genuss alkoholischer Getränke der Fall.

Das Landgericht Saarbrücken urteilte, dass das Fehlverhalten des VW Golf-Fahrers ebenso schwer zu gewichten ist, wie das fahruntüchtige Lenken eines Fahrzeugs nach Alkoholkonsum. Insbesondere stellte das Landgericht Saarbrücken darauf ab, dass der VW Golf-Fahrer durch den vorausgegangenen Beinahe-Unfall vorgewarnt war. Dieses Geschehen hätte den VW Golf-Fahrer zwingend dazu veranlassen müssen, von seinem schwerwiegenden Fehlverhalten Abstand zu nehmen und seine Aufmerksamkeit ungeteilt auf den Straßenverkehr zu richten.

 

Welche Haftungsquote setzte das Gericht an?

Wegen des grob verkehrswidrigen Verhaltens des VW Golf-Fahrers sah es das Landgericht Saarbrücken davon ab, eine Mithaftungsquote der Peugeot 206-Fahrerin anzusetzen. Der Kfz-Haftpflichtversicherer des VW Golf-Fahrers haftet folglich voll für die berechtigten Schadensersatzansprüche der auf tragische Weise tödlich verunglückten Fahrerin des Peugeot 206.

 

Weiterer Hinweis zum Strafverfahren gegen den Fahrer des VW-Golf

Das Amtsgericht Saarbrücken sprach den VW Golf-Fahrer im Strafverfahren einer fahrlässigen Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung für schuldig und verurteilte ihn zu einer Jugendstrafe von einem Jahr auf Bewährung.

 

RA Eberhard Hofäcker (hofaecker@edk.de)
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