Den Berlinern wird auf dem flachen Lande Brandenburgs nachgesagt, sie wüssten ohne Ampel nicht über eine Kreuzung zu kommen.
Das ist ungerecht. Vielmehr ist gerade das für Berlin zuständige Kammergericht führend in der rechtsfortbildenden Bestimmung der Rechte und Pflichten an unbeampelten Kreuzungen, während mir das Brandenburgische OLG in diesem Zusammenhang noch gar nicht aufgefallen ist. Gerade aus der kammergerichtliche Rechtsprechung lässt sich vielleicht auch die Zögerlichkeit manch Berliner Fahrzeugführers an solchen Straßenschnittpunkten erklären.
Das Kammergericht hat zuletzt mit Urteil vom 07.02.2011 – 12 U 59/10 – seine Rechtsprechung zum Einmündungsunfall ausgebaut.
Bisher galt (Kammergericht vom 28.01.2010 12 U 40/09):
Der nach § 8 StVO geschützte Vorfahrtsbereich erstreckt sich auf die gesamte Kreuzungsfläche (sog. „Einmündungsviereck“ und die linke Fahrbahnhälfte der untergeordneten Straße.
Wenn der Wartepflichtige in ein solches Einmündungsviereck einfahren will, darf er dies nur, wenn er den Vorfahrtsberechtigten nicht gefährdet oder behindert. Wenn er die Straßenverhältnisse nicht genau überblicken kann, muss er sich mit Beginn der Kreuzungsfläche in die Einmündung hineintasten.
Und wo beginnt so ein Einmündungsviereck? Dazu hat das Kammergericht nun ergänzt:
Das Einmündungsviereck umfasst die gesamte Kreuzungsfläche in ganzer Fahrbahnbreite. Lediglich bei rechtwinkligen Kreuzungen oder Einmündungen wird das Einmündungsviereck durch die Fluchtlinien der beiden Fahrbahnen begrenzt. Bei spitzwinkligen Einmündungen besteht das Einmündungsviereck zumindest aus dem Quadrat, welches sich aus den Fluchtlinien der Fahrbahnbegrenzung ergeben würde, wenn die Einmündung rechtwinklig wäre.
Die Skizze zum Urteil:
- Unfallskizze KG 07.02.2011 12 U 59/10
Das den Buchtstaben T hinauffahrende (Vorfahrtsstraße) und nach links abbiegende Fahrzeug hat Vorfahrt, der schraffierte Bereich ist der vorfahrtsgeschützte Bereich samt Einmündungsviereck, das das Kammergericht jetzt als senkrecht auf den Straßenrand der Nebenstraße stehend definiert hat. Der Haltepflichtige links muss die Vorfahrt schon dann beachten, wenn sein Fahrzeug die gedachte Verlängerung der Vorfahrtsstraße auf seiner Straße noch gar nicht erreicht hat.
Was lehrt uns das? Für den Fall eines Zusammenstoßes eines von links kommenden Wartepflichtigen mit einem Vorfahrtsberechtigten an spitzwinkliger Kreuzung ist nun geklärt, wo das Einmündungsviereck beginnt und damit bei unübsichtlicher Lage auch das Hereintasten zu beginnen hat.
Was ist noch ungeklärt? Ob der Vorfahrsberechtigte sich gegenüber einem von rechts kommenden Wartepflichtigen auf einen größeren Kreuzungsbereich zu seiner rechten Seite berufen kann, hat das Kammergericht offen gelassen („zumindest“). Eher nicht, meine ich. Ob das Einmündungsviereck sich nach links verschiebt, wenn die Vorfahrtstraße nun gar in stumpfen Winkel einmündet, ist auch noch offen. Auch das eher nicht, nehme ich an.
Rechtsrat aus Spandau: T-Kreuzungen mit stumpfen oder spitzen Winkel, an denen rechts vor links gilt (oder Vorfahrt für die einmündende Straße) sind wohl ziemlich selten, in Spandau ist mir keine bekannt. Mit der Kammergerichtsentscheidung muss der Wartepflichtige genau auf seine Einfahrt in die Einmündung achten. Wenn diese Einmündungen nicht schon von allein so unübersichtlich wären, müssten sie jedenfalls wegen der im übrigen ungeklärten Einmündungsvierecke mit großer Vorsicht befahren werden. Egal was die Brandenburger denken.
Über den Autor: Rechtsanwalt Robert Leisner – Kanzlei Lohf Leisner – Verkehrsrecht, Versicherungsrecht, Zivilrecht – Beitrag aus dem Blog rechtsanwalt-leisner.de