Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung durch Videoaufzeichnungen der Polizei im Geschwindigkeits- und Abstandsmessverfahren – BVerfG, 2 BvR 941/08 vom 11.8.2009

Beitrag v. RA Schwartz, Rechtsanwälte Andrae & Simmer, Am Stiefel 2, 66111 Saarbrücken

I. Sachverhalt

Der Beschwerdeführer war im Januar 2006 mit seinem Auto auf der BAB 19 von einem Verkehrskontrollsystem mit Videoaufzeichnung erfasst worden.

Ihm wurde vorgeworfen, er habe die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 29 km/h überschritten. Gegen den Bußgeldbescheid über 50 Euro legte der Beschuldigte Widerspruch ein.

Er meinte, der Verkehr sei ohne konkreten Tatverdacht videoüberwacht worden, deshalb könne die Messung nur rechts-/verfassungswidrig sein. Der Beschwerdeführer scheiterte mit seinen Argumenten aber beim Amtsgericht Güstrow und beim Oberlandesgericht Rostock.

II. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und der Hintergrund
Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 11.08.2009, Az.: 2 BvR 941/08) hat der Verwendung von ortsfesten Video-Systemen zur Überwachung des Verkehrs ohne besondere gesetzliche Befugnis eine Nichtvereinbarkeit mit dem Grundgesetz bescheinigt.

Generelle Videoaufzeichnungen zur Ermittlung von Geschwindigkeits- oder Abstandsverstößen ohne eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung stellen einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Verkehrsteilnehmers aus Art. 2 Abs.1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar.

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung umfasst die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart und personenbezogene Daten preisgegeben werden.

Als personenbezogene Daten bezeichnet man Einzelangaben über persönliche und sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person (vergleiche Legaldefinition in    § 3 Abs. 1 Bundesdatenschutzgesetz – BDSG). Alle Informationen und Umstände, mittels derer man den Bezug zu einer konkreten Person herstellen kann, sind folglich solche personenbezogenen Daten. Hierzu gehören auch Daten die öffentlich oder einem größeren Personenkreis zugänglich sind, beispielhaft auch das Kfz-Kennzeichen.

Der Einzelne kann über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten selbst bestimmen; er ist insbesondere gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe personenbezogener, individualisierter oder individualisierbarer Daten geschützt. Die mittels einer Videoaufzeichnung vorgenommene Geschwindigkeitsmessung stellt eine Erhebung derartiger Daten und damit einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar; es werden beobachtete Lebensvorgänge technisch fixiert.

In der Videoaufzeichnung liegt folglich ein Grundrechtseingriff. Dieser entfällt auch nicht dadurch, dass lediglich Verhaltensweisen im öffentlichen Raum erhoben werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat in der hier gegenständlichen Entscheidung klargestellt, dass es sich bei einem Videomitschnitt des Verkehrsgeschehens – ohne vorherige Auswahl verdächtiger Fahrzeuge – um einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung handelt.

Ein solcher grundrechtsrelevanter Eingriff bedarf einer klaren gesetzlichen Grundlage.

Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung kann nämlich nur im überwiegenden Allgemeininteresse eingeschränkt werden.

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet nicht nur den Schutz der Privat- und Intimsphäre, sondern trägt in Gestalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auch den informationellen Schutzinteressen des Einzelnen, der sich in die Öffentlichkeit begibt, Rechnung.

Es liegt auch kein Fall vor, in dem Daten ungezielt und allein technikbedingt zunächst miterfasst, dann aber ohne weiteren Erkenntnisgewinn, anonym und spurenlos wieder gelöscht werden, so dass aus diesem Grund die Eingriffsqualität verneint werden könnte. Der Entscheidung des BVerfG liegt eine kontinuierliche Aufzeichnung des gesamten Verkehrsflusses zu Grunde. Erst im Nachhinein wird auf einem Bildschirm ausgewertet, ob gegen eine Geschwindigkeitsbeschränkung oder eine Abstandsregel verstoßen wurde.

Die gesetzlichen Grundlage muss hierbei dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entsprechen und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muss dabei stets beachtet werden.

Anlass, Zweck und Grenzen des Eingriffs müssen in der Ermächtigung bereichsspezifisch, präzise und normenklar festgelegt werden.

Verwaltungsvorschriften, als auch verwaltungsinterne Anweisungen stellen keine gesetzliche Grundlage dar.

Sofern hierfür keine landesgesetzlichen Grundlagen (wie es in der hier gegenständlichen Entscheidung der Fall ist) existieren, fehlt es insgesamt an einer gesetzlichen Grundlage.

Nach Auffassung des Verfassers stellt auch § 100 h StPO in Verbindung mit § 46 OWiG keine, den Grundrechtseingriff rechtfertigende Grundlage dar.

III. Stellungnahme

Stets ist es zu differenzieren, mit welcher Messverfahrenstechnik gearbeitet wird und ob die Videoaufzeichnungen auch wirklich individualisierende Merkmale einzelner Fahrzeuge und der verantwortlichen Fahrzeugführer offenbaren bzw. eine Offenbarung ermöglichen.

Je nach Messtechnik, kann es auch der Fall sein, dass nicht nur mit einer Videokamera („Brückenkamera“) gearbeitet wird, sondern erst mit einer zweiten Videokamera („Identifikationskamera“) am Fahrbahnrand das Fahrzeugkennzeichen und der Fahrer selbst bildlich deutlich gemacht werden; in diesem Falle dient die „Brückenkamera“ (zunächst) lediglich zur Erstellung von Übersichtsaufnahmen.

Dem Beschluss des BVerfG liegt die Tatsache zu Grunde, dass auf der Videoaufzeichnung der Verkehrsverstoß dokumentiert wurde und individualisierende Merkmale, wie Fahrzeugmarke, Fahrzeugfabrikat, Kennzeichen und Fahrzeugführer dargestellt werden.

Die Vereinbarkeit einer derartigen Vorgehensweise mit unserem Grundgesetz, insbesondere wenn es an einer entsprechenden Rechtsgrundlage fehlt, kommt in der Entscheidung des BVerfG eindeutig zum Vorschein.

Problematisch sind jedoch auch weiterhin derartige Fälle, in denen eine „Zwei-Kamera-Technik“ benutzt wird; die erste Kamera („Brückenkamera“) liefert eine Übersichtsaufnahme; anhand dieser Übersichtsaufnahme kann der vor Ort eingesetzte Polizeibeamte – beispielhaft bei einem vermuteten Abstandsverstoß – eine zweite, an der Fahrbahnseite aufgestellte Kamera, auslösen, um das Fahrzeug und den Fahrzeugführer zu identifizieren. Erst im Nachhinein wird auf der Dienststelle der konkrete Verstoß anhand der Übersichtsaufnahme („Brückenkamera“) von dem Beamten ausgewertet.

Auch hierbei ist es jedoch bereits problematisch, in wieweit die Videoaufzeichnung über die „Brückenkamera“ das Recht des Verkehrsteilnehmers auf informationelle Selbstbestimmung verletzt.

Selbst wenn auf den ersten Blick keine Individualisierungsmerkmale zu erkennen sind, ist ein Verstoß gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung selbst dann schon gegeben, wenn durch eine Nachbearbeitung identifikationstaugliche Merkmale vergrößert werden können. Ob ein derartiges Vergrößern, Abrufen, Aufbereiten oder Auswerten tatsächlich erfolgt, erscheint als nicht maßgebend; vielmehr genügt die rein tatsächliche Möglichkeit hierzu.

Auch das mögliche Argument, die Übersichtsaufzeichnungen seien „nur“ auf VHS oder S-VHS Videobändern aufgenommen und keiner digitalen Nachbearbeitung zugänglich, verschließt die faktische Möglichkeit einer technischen Nachbearbeitung und Auswertung nicht gänzlich; diese wird lediglich erschwert.

Zu beachten ist es hierbei ebenfalls, dass gerade die, durch die Brückenkamera gewonnenen Erkenntnisse, im Ordnungswidrigkeitenverfahren, die eigentliche Grundlage und den Nachweis des Verstoßes darstellen und als Beweismittel (durch nachträgliches Auswerten und Bearbeiten) benutzt werden; hierbei muss noch einmal deutlich gemacht werden, dass das Videoband der „Brückenkamera“ dauerhaft mit einer geeichten Zeitangabe läuft und durch einen Vergleich mit mehreren Fahrbahnmarkierungen, der Nachweis über einen Verkehrsverstoß geführt werden kann.

IV. Fazit

Videoaufzeichnungen mit dem Verkehrskontrollgerät (videogestütztes Abstandsmessverfahren) VKS 3.0 sind mithin verfassungswidrig, solange sie lediglich durch einen ministeriellen Erlass zugelassen sind und eine gesetzliche Grundlage dafür nicht existiert.

Folge für die anwaltliche Praxis ist, dass die Nutzung einer derartigen Videoaufzeichnung im Bußgeldverfahren gerügt werden muss, um möglichst ein Beweisverwertungsverbot zu erreichen. Ob ein solches in der Rechtsprechung bejaht werden wird ist allerdings noch unklar. Aus einem Beweiserhebungsverbot muss sich schließlich nicht zwangsläufig auch ein Beweisverwertungsverbot ergeben.

Sollten Sie mittels der Überwachungstechnik VIDIT VKS 3.0 gemessen worden sein und wird Ihnen eine Geschwindigkeitsüberschreitung oder eine Abstandsunterschreitung vorgeworfen, sollten Sie diesen Vorwurf jedenfalls dringend von einem Rechtsanwalt überprüfen lassen.

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