AG Mitte: fahrradsportliche Kleidung und Sitzweise begründen kein Mitverschulden

(c) ulikat / Pixelio

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Unser Mandant fuhr mit seinem Fahrrad, als vor ihm plötzlich ein Auto aus einer Parklücke herausfuhr. Bremsen brachte nicht den gewünschten Erfolg, er krachte gegen das Auto und flog über die Motorhaube. Das Rad war kaputt, unser Mandant musste ins Krankenhaus, wo man ihm u.a. seinen Nasenflügel wieder annähte. Wir machten den Sachschaden, als auch Schmerzensgeld bei der Kfz-Haftpflichtversicherung der Autofahrerin geltend. Dort wollte man aber nicht zahlen, da unser Mandant angeblich den Unfall verursacht habe. Er sei mit hoher Geschwindigkeit und gesenktem Kopf gefahren, dies habe ein Unfallzeugen beobachtet, und das Auto daher nicht gesehen.

Um dem ganzen noch die Krone aufzusetzen, erhielt unser Mandant – nicht etwa die Autofahrerin – ein Verwarngeldangebot. Es benötigte eine Begründung des Einspruchs, nach Terminierung ein weiteres Schreiben und eines Hauptverhandlungstages, bis das Verfahren von einem der „gut vorbereiteten“ Richter des AG Tiergarten eingestellt wurde. Der hatte die Akte nämlich erst am Terminstag gelesen, anscheinend zum ersten Mal. Zumindest hatten wir Gelegenheit den Unfallzeugen erstmalig zu hören. Ein „Knallzeuge“ mit Aversionen gegen Radfahrer.

Unser Mandant war nicht rechtsschutzversichert, beauftragte uns aber trotzdem, seine Ansprüche klageweise durchzusetzen. Um das Kostenrisiko zu begrenzen, klagten wir zunächst einmal nur den Sachschaden ein. Der Erwiderungsschriftsatz, immerhin von einem Fachanwalt für Verkehrsrecht verfasst, war derart konfus, dass wir uns fragten, welche geniale Strategie dahinter wohl stecken möge. Das Gericht fragte sich das auch und gab den Beklagten zunächst einmal einen Hinweis:

Den Beklagten wird gemäß § 273 ZPO aufgegeben, innerhalb von 5 Wochen klarzustellen, wieso die Beklagte zu 1) nachdem sie aus der Parklücke wieder heraus gefahren war, stehen blieb, obwohl zunächst Pkws heranfuhren, und sie danach das Fahrrad heranfahren sah. Es dürfte unüblich sein, einen relativ langen Zeitraum stehen zu bleiben, wenn das ordnungsgemäße Einparken möglich war. Nicht verständlich ist ferner, dass die Beklagte zu 1) nicht spätestens dann, als sie das Fahrrad heranfahren sah, zurücksetzte. Gerade wenn sie einen Radfahrer mit gesenktem Kopf und hoher Geschwindigkeit herannahen sah, hätte Grund dafür bestanden, die Fahrbahn vollständig zu verlassen? Oder hat die Beklagte zu 1) teilweise in der Fahrbahn gestanden, ohne den Verkehr zu beobachten? Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass aus hiesiger Sicht § 10 StVO zur Anwendung kommt. Das kann möglicherweise aber dahinstehen, da die Beklagten nach § 7 StVG haften, während eine Haftung des Klägers nach dieser Vorschrift nicht in Betracht kommt. Die Beklagten müssen auch danach beweisen, dass den Kläger eine Schuld trifft (§ 9 StVG, 254 BGB).

Wir waren beruhigt. Zum einen weil das Gericht die Haftungsfrage so sah wie wir und den Vortrag der Gegenseite anscheinend auch nicht verstand. Dann allerdings legte der Kollege nach und präsentierte einen völlig neuen Unfallhergang. Danach sah es so aus, als sei unser Mandant mit seinem Rad quasi vom Himmel und auf das Auto gefallen. Außerdem war er mit fahrradsportlicher Kleidung unterwegs, das impliziere den Willen mit Höchstgeschwindigkeit zu fahren. Aha. Genauso wie man Fahrern von Sportwagen ja gern unterstellt, sie würden ständig Geschwindigkeitsüberschreitungen begehen. Wir wiesen in einem letzen Schriftsatz auf den widersprüchlichen Sachvortrag hin und harrten des Gütetermins.

Eine denkwürdige Veranstaltung. Die Autofahrerin und auch unser Mandant wurden persönlich gehört, wir hatten die beschädigte Schutzkleidung und zwei sehr teure B&L-Scheinwerfer mitgebracht, die den Unfall ebenfalls nicht überlebt hatten. Die Autofahrerin erzählte folgendes:

Nachdem ich zunächst eingeparkt hatte, wollte ich meine Parkposition korrigieren und bin ein Stück nach vorne gefahren. Ich habe mich vorgetastet und bin ausgesprochen langsam gefahren, wobei ich festgestellt habe, dass die Fahrbahn links und rechts frei war. Nach dieser Feststellung bin ich ein Stück weiter nach vorne gefahren und habe dann den Rückwärtsgang eingelegt. Ich hebe den Kopf und schaue nach rechts, wo ich keinen Verkehr feststelle, beim Drehen des Kopfes nach links schaue ich in eine Wahnsinnsleuchte und es kommt zum Unfall. Ich kann nicht sagen, wie lange ich gestanden habe. Es ist zu viel geschrieben worden. Die Kurve links, aus der das Fahrrad möglicherweise kam, ist ca. 60 Meter entfernt. (…) Wenn ich gefragt werde, ob der Vorgang wie schriftsätzlich vorgetragen, 10 Sekunden dauerte, dann kann ich das nicht sagen. 10 Sekunden sind lang. Ich habe mich nicht aufgestellt und Zeit bewusst registriert.

Am besten gefiel uns der Satz, dass bereits zu viel geschrieben wurde. Größtenteils nämlich Unsinn. Das Gericht diskutierte dann noch eine Weile mit dem Kollegen darüber, ob der „Knallzeuge“ nun gehört werden muss oder nicht. Unsere Stellungnahme dazu fiel kurz und trocken aus. Der Zeuge war bereits im Bußgeldverfahren so überzeugend, den müsse man sich einfach anhören. Der Richter wollte sich das in Ruhe überlegen und uns seine Sicht der Dinge lieber im Beschlusswege mitteilen. Das tat er dann sehr deutlich:

Haftung dem Grunde nach

Daran, dass die Beklagten schon aufgrund der Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs und auch, weil die Beklagte zu 1) den fließenden Verkehr, in dem sich der Kläger befand, nicht ausreichend beachtet hat, haften, bestehen keine Zweifel. Es ist gerade auch nach Anhörung der Parteien kaum verständlich, was für eine Mithaftung des Klägers dem Grunde nach sprechen soll. Der Unfall ereignete sich, als die Beklagte zu 1) dabei war, ihr Fahrzeug einzuparken. Ungeachtet der Frage, ob gegen sie der sich aus § 10 StVO ergebende Anscheinsbeweis spricht steht jedenfalls fest, dass sie aus der Parklücke gefahren ist, um ihre Parkposition zu korrigieren. Die Haftung ergäbe sich schon aus der Betriebsgefahr des von der Beklagten geführten Fahrzeugs, während ein Fahrrad keine Betriebsgefahr hat. Soweit die Klägerin bekundet hat, auch nach links geschaut zu haben, ist dies nicht nachvollziehbar und im Übrigen auch kaum zu beweisen. Bei sorgfältigem Beobachten des Verkehrs hatte ihr ein von links mit Licht herannahendes Fahrrad nicht entgehen können, und sie hatte dessen Bevorrechtigung beachten können und müssen. Wenn sie aber selbst bekundet, dass sie in dem Moment, als sie nach links schaute, in „eine Wahnsinnsleuchte“ geschaut hat und es zum Unfall gekommen ist, spricht dies deutlich für ihre Sorgfaltswidrigkeit. Der Kläger ist als berechtigter Fahrer auf der Straße gefahren. Dass er mit einer Geschwindigkeit gefahren sei, die zum einen nicht erlaubt und zum anderen unfallkausal gewesen wäre, lasst sich gleichfalls nicht nachvollziehen. Ein Gutachten hierzu würde, wenn es dem Gericht verdeutlicht werden sollte, wieso die Geschwindigkeit (die nur vermutet werden kann) Einfluss auf die Rechtslage haben kann, zu erheblich höheren Kosten des Rechtstreits führen, die von der unterliegenden Partei zu tragen sind. Dass der Kläger in einer sportlichen Haltung gefahren ist kann schwerlich zu einer Mithaftung füh­ren. Ob es gelingen kann, durch den Zeugen den Beweis zu führen, dass der Kläger nach unten geschaut hat (wie will der Zeuge die Blickrichtung des Klägers feststellen?), mit anderen Worten über eine längere Strecke quasi blind gefahren sei, wird bezweifelt. Wie soll ein Zeuge solches glaubhaft bekunden können?

Letztlich wäre der Zeuge möglicherweise dazu zu vernehmen, dass der Pkw längere Zeit auf der Straße gestanden hätte, wobei es nicht wirklich nachvollziehbar ist, wie es die Beklagten entlasten soll, wenn die Beklagte zu 1) entgegen ihrer Bekundung in der mündlichen Verhandlung quasi als Hindernis für den fließenden Verkehr längere Zeit quer auf der Straße gestanden hätte. Dann wä­re der Kläger quasi sehenden Auges/ vorsätzlich in das Hindernis gefahren. Soll das behauptet werden?

Insgesamt zu berücksichtigen ist auch, dass – wie schon erwähnt – auf Seiten der Beklagten die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs zu berücksichtigen ist, während ein Verschulden des Klä­gers durch die Beklagten zu beweisen ist. Dass die Beklagten wenigstens zu einem überwiegenden Anteil haften werden, mit der Folge, dass sie auch entsprechend der Quote für die weiteren Kosten der Beweisaufnahme haften werden, liegt sehr nahe.

Haftung der Höhe nach

Es wird angeregt, sich für den materiellen Schaden auf einen Betrag von 650,00 € zu einigen. Dass das Fahrrad und die Scheinwerfer beschädigt sind dürfte schwerlich zu bezweifeln sein. Die Fahrradlampen wurden in der mündlichen Verhandlung vorgelegt. Ggfs. wird zur Höhe aber ein Sachverständigengutachten einzuholen sein. Aus Sicht des Gerichts ist eine kostenträchtige Be­weisaufnahme unwirtschaftlich. Bei der Fahrradkleidung bestehen aber Bedenken. Zwar konnte ein kleines Loch an der Fahrradhose festgestellt werden, doch rechtfertigt dies möglicherweise nicht die Neuanschaffung. Für den Helm mag möglicherweise eine Erstattung in Betracht kommen, wobei hierzu weiter vorzutragen sein wird, dass aber die Überschuhe beschädigt wurden, kann nicht nachvollzogen werden. (…)

Wir haben den vom Gericht vorgeschlagenen Vergleich angenommen.

AG Mitte, Beschluss vom 02.09.2010, Az: 105 C 3056/10

Quelle: http://www.mitfugundrecht.de/category/verkehrsrecht/